Belastungsinkontinenz des Mannes
Definition der Belastungsinkontinenz
Der Harnblasendruck übersteigt durch passive (abdominelle) Druckerhöhung den Harnröhrenverschlussdruck und führt zur Inkontinenz bei körperlicher Belastung. Die früher gebräuchliche Bezeichnung Stressinkontinenz sollte nicht mehr verwendet werden [Hampel 2007]. EAU Guidelines Urinary Incontinence.
Epidemiologie der männlichen Harninkontinenz
Bei älteren männlichen Patienten (>60 Jahre) liegt die Prävalenz der Harninkontinenz bei 7–10 % (im Vergleich zu 10–20 % bei älteren Frauen). Nur eine Minderheit leidet jedoch unter einer reinen Belastungsinkontinenz, häufiger sind die Dranginkontinenz und gemischte Ursachen.
Ursachen der Harninkontinenz des Mannes
Radikale Prostatektomie und Harninkontinenz:
die Häufigkeit der Harninkontinenz nach radikaler Entfernung der Prostata wird in der Literatur zwischen 0,5 % und 87 % angegeben. Die hohe Streubreite der Angaben ist durch unterschiedliche Erhebungen (Operierende oder unabhängige Beobachter), unterschiedliche Zeitpunkte nach der Operation und unterschiedliche Definitionen der Harninkontinenz bedingt. Im Langzeitverlauf werden von etwa 10 % der Patienten mehr als eine Vorlage benötigt. Risikofaktoren für eine postoperative Inkontinenz sind: hohes Alter, vorangegangene TURP, fortgeschrittene Tumoren.
Mehrere Ursachen für die Harninkontinenz nach Prostatektomie werden diskutiert. Eine direkte Schädigung des M. sphincter externus oder seiner Innervation entsteht durch tiefe Durchstechungen bei Blutungen am Plexus santorinii oder Tumorinfiltration. Protektive Faktoren für die postoperative Kontinenz sind ein niedriges Tumorstadium, bilaterale Nervenschonung, die Länge der geschonten Harnröhre, jüngere gesunde Patienten und keine Voroperationen an der Prostata (TURP).
Die postoperative Hypermobilität der membranösen Harnröhre ist als weiterer Faktor für die Sphinkterschwäche nach radikaler Prostatektomie erkannt worden. Diese Erkenntnis hat zur Entwicklung der suburethralen Bänder geführt [Gozzi 2008] und Modifikationen der Operationstechnik hervorgebracht [Rocco 2009]. Gelegentlich entsteht eine Dranginkontinenz nach radikaler Prostatektomie.
TURP und Adenomektomie als Ursache einer Harninkontinenz:
Direkt nach Entfernung des Prostataadenoms (TURP oder Adenomektomie) verliert der Patient die prostatische Komponente des Harnblasenverschlussmechanismus, das Urethradruckprofil gleicht sich dem der Frau an. Zusätzlich entsteht postoperativ häufig eine Detrusorhyperaktivität. Mit Hilfe einer Verhaltenstherapie (Anpassung von Trinkmenge und Miktion), Physiotherapie und einer anticholinergen Medikation kann der intakte Sphinkter bald o.g. Faktoren kompensieren [Hampel 2007].
Selten entsteht im Langzeitverlauf nach operativer BPH-Therapie eine persistierende Harninkontinenz. Ursachen sind die persistierende Dranginkontinenz, eine Harnröhren- oder Harnblasenhalsstriktur, neurologische Erkrankungen, eine zuvor bestehende Sphinkterinsuffizienz oder eine iatrogen entstandene Sphinkterschädigung. Im Langzeitverlauf zeigt sich bei 0,5 % der Patienten eine Belastungsinkontinenz durch eine Verletzung des M. sphincter externus [Rassweiler 2006].
Trauma als Ursache einer Harninkontinenz:
insbesondere eine Distraktionsverletzung der membranösen Harnröhre durch eine Beckenfraktur können eine Belastungsinkontinenz verursachen.
Weitere Ursachen:
Alter, Immobilität, neurologische Erkrankungen, subvesikale Obstruktion und Alterungsprozesse des Harntraktes können bei Männern zu einer Harninkontinenz führen.
Klinik
Einteilung des Harnverlustes nach Stamey:
- Grad 1: Harnverlust bei Husten, Niesen, Lachen
- Grad 2: Harnverlust beim Gehen und Aufstehen
- Grad 3: Harnverlust im Liegen
Weitere Symptome: Urgesymptomatik, Restharnbildung, Harnstrahlabschwächung, Harnverhalt, rezidivierende Harnwegsinfektionen.
Diagnose der männlichen Harninkontinenz
Anamnese:
wichtig sind Ausmaß der Inkontinenz, Leidensdruck, Voroperationen, Medikamente (Alphablocker, Clonidin), neurologische und urologische Erkrankungen.
Urin:
Urinsediment und Urinkultur durch Mittelstrahlurin.
Quantifizierung der Belastungsinkontinenz:
Erhebung der Trinkmengen, Miktionsvolumina und Inkontinenzepisoden durch ein Miktionstagebuch. Ausreichend ist meist ein Zeitraum über 24–48 h. Bei kooperativen Patienten mit einer Digitalwaage zuhause kann der Schweregrad der Inkontinenz durch das eigene Auswiegen der Inkontinenzvorlagen erhoben werden.
Vorlagen- oder Pad-Test:
Alternative zum Auswiegen der Vorlagen im Rahmen des Miktionsprotokolls: eine gewogene Vorlage wird in die Unterwäsche eingelegt, der Patient sollte vor dem Test reichlich getrunken haben. Der Vorlage wird eine Stunde getragen, weiterhin werden definierte Provokationsübungen (Treppensteigen, Hüpfen, Husten....) durchgeführt, danach wird die Vorlage erneut gewogen. Ein Urinverlust von über 25 g gilt als schwere Harninkontinenz.
Sonographie:
zur Bestimmung von Restharn.
Urodynamik:
Die Urodynamik kann die Ursache(n) der Inkontinenz am besten diagnostizieren (Belastungs-, Urge- oder kombinierte Inkontinenz).
Zystoskopie:
Die Zystoskopie ist wichtig für die Beurteilung der Sphinkter(rest)funktion. Weitere wichtige Befunde sind Harnröhrenstrikturen, Harnblasenhalsstrikturen und Anastomosenstrikturen.
Konservative Therapie der Harninkontinenz des Mannes
Basisversorgung:
Kondomurinal, Vorlagen- oder Windelversorgung, ggf. suprapubischer Dauerkatheter.
Physiotherapie:
die Beckenboden-Physiotherapie hat die Sphinkterstärkung als Ziel. Die Übungen können durch Biofeedback in der Effizienz gesteigert werden. Bis zu einem Jahr nach RPE kann eine Besserung der Belastungsinkontinenz durch die Physiotherapie (und den Spontanverlauf) erwartet werden. In randomisierten Studien verbessert die Physiotherapie die Frühkontinenz, hat aber auf die Langzeitergebnisse nur einen geringen Einfluss [MacDonald 2007].
Medikamentöse Therapie:
Bei gemischter Harninkontinenz kann eine anticholinerge Medikation die Beschwerden lindern. Spezifisch gegen die Belastungsharninkontinenz wirkt Duloxetin, ein Serotonin- und Noradrenalin-Reuptake-Hemmer. Duloxetin ist für Männer nicht zugelassen, es kann nur als "Off-Label" Therapie verordnet werden [Schlenker 2006]. Ein Therapieversuch ist nur bei milder Belastungsinkontinenz sinnvoll, zahlreiche Kontraindikationen sind zu beachten.
Operative Therapie der männlichen Harninkontinenz
Brauchbare Langzeitergebnisse existieren nur für den artifiziellen Sphinkter, alle anderen unten genannten Verfahren sind zwar deutlich weniger invasiv und kompliziert, müssen sich aber erst im Langzeitverlauf bewähren.
Unterspritzung des Sphinkters:
Verschiedene Materialien (bulking agents) werden verwendet, um den geschwächten Sphinkter durch ein submuköses Polster in seiner Schließfunktion zu unterstützen. Kollagen hat den Nachteil, dass es resorbiert wird und die Wirkung nachlässt. Nicht resorbierbare Materialien zeigen z. B. durch Dislokation auch nur eine begrenzte Wirksamkeit bei milder Harninkontinenz. Autologe Myoblasten und Fibroblasten erzielten in ersten Studien gute Ergebnisse [Mitterberger 2008] [Strasser 2007], diese konnten jedoch nicht reproduziert werden und die Studien werden wissenschaftlich angezweifelt.
Adjustierbarer Ballon (ProACT):
ProACT sind zwei perkutan eingebrachte adjustierbare perineale Silikonballons, welche die membranöse Harnröhre komprimieren [Huebner 2007].
Nicht adjustierbare Schlingensysteme:
knochenverankertes bulbourethrales Band (Invance) [Guimaraes 2009], funktionelles retrourethrales Band ohne Knochenverankerung (Advance) [Gozzi 2008].
Adjustierbare Schlingensysteme:
Argus-System [Romano 2006], Reemex-System.
Artifizieller Sphinkter:
Die Methode der Wahl bei fehlender Sphinkteraktivität oder nach Versagen o.g. Therapieoptionen, siehe Abb. artifizielle Sphinkter AMS 800.
Hinsichtlich der Kontinenz sind sehr gute Ergebnisse zu erwarten. Nachteilig ist das relativ hohe Risiko für operative Revisionen (bis zu 50 % innerhalb von 5 Jahren). Mechanisches Versagen, Cuff-Erosion der Harnröhre und Infektionen sind die häufigsten Komplikationen [Hussain 2005]. Für die Bedienung des artifiziellen Sphinkters sollte der Patient eine gewisse manuelle Geschicklichkeit und intellektuelle Einsicht in die Problematik mitbringen [Abbildung: Steuerung des AMS 800 Harnblasensphinkters].
Die Deaktivierung des artifiziellen Sphinkters ist wichtig vor transurethralen Manipulationen.
Belastungsharninkontinenz | suchen | Reizblase |
Sachregistersuche: A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
Literatur
Gozzi, C. u. a. (2008). [Functional retrourethral sling. A change of paradigm in the treatment of stress incontinence after radical prostatectomy]. In: Urologe A 47, S. 1224–1228.
Hampel, C. u. a. (2007). [Established treatment options for male stress urinary incontinence]. In: Urologe A 46, S. 244–8, 250–6.
Hussain, M. u. a. (2005). The current role of the artificial urinary sphincter for the treatment of urinary incontinence. In: J Urol 174, S. 418–424.
Hübner, W. A. und O. M. Schlarp (2007). Adjustable continence therapy (ProACT): evolution of the surgical technique and comparison of the original 50 patients with the most recent 50 patients at a single centre. In: Eur Urol 52, S. 680–686.
MacDonald, R. u. a. (2007). Pelvic floor muscle training to improve urinary incontinence after radical prostatectomy: a systematic review of effectiveness. In: BJU Int 100, S. 76–81.
Mitterberger, M. u. a. (2008). Myoblast and fibroblast therapy for post-prostatectomy urinary incontinence: 1-year followup of 63 patients. In: J Urol 179, S. 226–231.
Rassweiler, Jens u. a. (2006). Complications of transurethral resection of the prostate (TURP)–incidence, management, and prevention. In: Eur Urol 50, 969–79; discussion 980.
Romano, S. V. u. a. (2006). An adjustable male sling for treating urinary incontinence after prostatectomy: a phase III multicentre trial. In: BJU Int 97, S. 533–539.
Schlenker, B. u. a. (2006). Preliminary results on the off-label use of duloxetine for the treatment of stress incontinence after radical prostatectomy or cystectomy. In: Eur Urol 49, S. 1075–1078.
Strasser, H. u. a. (2007). Autologous myoblasts and fibroblasts versus collagen for treatment of stress urinary incontinence in women: a randomised controlled trial. In: Lancet 369, S. 2179–2186.